Rinquelle
Betlis
Rinquelle
Wohl kaum ein Erholung suchender Gast im Arvenbühl oberhalb von Amden käme auf den Gedanken, dass einige hundert Meter, direkt unter seinen Füssen, Taucher ein weit verzweigtes Flusssystem tief im Berginnern erforschen. Unter Millionen von Tonnen massiven Kalkgesteins bilden komplett mit Wasser gefüllte Gänge und tiefe Schlunde, vor Tausenden von Jahren im Fels geboren, den Weg der Höhlentaucher. Durch einen riesigen Röntgenapparat betrachtet gleichen die Churfirsten eher einem Emmentaler- Käse als einem soliden Gebirge. Und darin, ganz klein und nichtig, könnten wir die Skelette der tauchenden Menschen im Gestein entdecken.
Der sechste Kontinent
Der Eingang zum sechsten Kontinent so pflegen Höhlenforscher ihre verborgene, fremdartige Welt liebevoll zu benennen liegt im Falle der Churfirsten im malerischen Betlis am Walensee. Dort ziehen jedoch im ersten Augenblick die Serenbachfälle unsere Aufmerksamkeit auf sich. Über 600 Höhenmeter ergiesst sich das Wasser des Serenbachs in drei Stufen in die Serenbachschlucht. Damit stehen wir vor einem der höchsten und imposantesten Wasserfälle Europas. Und da ist sie die Rinquelle! Im untersten Teil des Serenbachfalls, 48 Meter über dem Talgrund, schiesst ein zweiter Strahl aus dem scheinbaren Nichts in die dunkle Schlucht und fliesst gemeinsam mit dem Serenbach in den Walensee.
Die Rinquelle zählt zu den grössten Karstquellen der Schweiz. Während der Schneeschmelze oder nach starken Regenfällen fliessen hier bis zu 10 Kubikmeter Wasser pro Sekunde zutage. Vorstösse ins Bergesinnere sind während wasserreichen Zeiten wegen der zu starken Gegenströmung kaum möglich: Zuviel kostbare Luft verbraucht das Ankämpfen gegen den reissenden Strom. Die Tauchsaison ist daher hauptsächlich auf die Wintermonate beschränkt.
Die Herkunft des Namens «Rinquelle» ist nicht genau bekannt. «Rin» bedeutet Wasserlauf eine plausible Erklärung für den Namen einer Quelle. Seit langer Zeit hält sich jedoch hartnäckig das Gerücht, dass die Quelle aus versickerndem Rheinwasser gespiesen und so nach Ihrem Ursprung benannt ist.
Ebenso wie der Name der Quelle ist auch die Herkunft des Wassers bis heute nicht vollständig geklärt. Und genau hier setzt ein erster Erklärungsversuch an, warum Menschen sich freiwillig einer solch lebensfeindlichen Umgebung aussetzen: der Drang, Geheimnisse zu lüften, der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn, der Pioniergeist, einen jungfräulichen Punkt zu erreichen, wo noch nie zuvor ein anderer Mensch seine Spuren hinterlassen hat.
Geschichte
Erst der technische Fortschritt der letzten Jahrzehnte ermöglicht es, die völlig unter Wasser liegenden Labyrinthe und Gänge zu erkunden. Bereits in den Jahren 1959, 1963 und 1967 gab es erste Tauchvorstösse in die Unterwasserhöhle. Dabei versuchten Sporttaucher aus Winterthur, Mitglieder des Züricher Tauchclubs Glaukos sowie eine Gruppe des SAC Bern ihr Glück. Letztere mussten den tragischen Tod eines Beteiligten beklagen. Beim ersten tollkühnen Vorstoss von 1959 der Gruppe aus Bern drangen die Speläonauten (griech. spélaion = Höhle) sensationelle hundert Meter in den Berg hinein. Im Jahr 1967 wurde von den Tauchern der Tauchgruppe Glaukos der tagfernste Punkt 220 Meter hinter dem Eingang erreicht. Angehörige des Zürcher Speleoclubs und des Unterwassersportzentrums Zürich gründeten schliesslich im Jahr 1969 die Arbeitsgemeinschaft Rinquellenforschung.
Eine der grossen Herausforderungen damals war die Logistik. Um den Höhleneingang zu erreichen, musste eine ca. 25 Meter hohe Wand, die sich im Streubereich von Stein- und Eisgeschossen des Serenbachs befand, mittels Strickleiter und ohne zusätzliche Sicherung überwunden werden. Angesichts mehrerer hundert Kilo Ausrüstung für die Tauchgänge, welche die Wand hochgezogen werden mussten, beschloss man, vom Waldbord aus, das dem Höhleneingang gegenüber liegt, eine Transportseilbahn einzurichten. Die Seilbahn, ursprünglich für den Materialtransport bestimmt, beförderte bald einmal auch Personen. Als Materialkorb diente eine Kiste, die aus einem Metallrahmen und einem Bodenbrett besteht. Sie bietet genau einer Person Platz, allerdings müssen beim Sitzen die Beine angewinkelt werden. Als wäre es nicht schauerlich genug, in dieser Schaukelkiste alleine am fünfzehn Millimeter starken Tragseil in bis zu fünfzig Metern Höhe über der Schlucht zu schweben, hat es sich eingebürgert, alle Neulinge auf halber Strecke durch kräftiges Schaukeln am Seil das Gruseln zu lehren. (Heute existiert die Seilbahn nicht mehr!)
Im folgenden Jahr konnte der weitest entfernte Umkehrpunkt bereits auf 370 Meter in die Höhle hinein verschoben werden. Dabei machten die Taucher 280 Meter vom Höhleneingang entfernt eine aufschlussreiche Entdeckung: Die Höhle teilt sich, ähnlich einem T-Stück, in einen Zufluss, einen Abfluss und einen Überlauf! Der nach aussen führende Stollen der Rinquelle funktioniert als Hochwasserüberlauf, wenn der Hauptfluss die Wassermassen nicht mehr zu schlucken vermag. Durch eine grosse Spalte, die an einen Briefkastenschlitz erinnert, dringt Wasser mit merklicher Strömung aus der Tiefe empor, um geradeaus wieder in ein schwarzes, unheimliches Loch zu entschwinden. Das Abenteuer hat sich verdoppelt und geht weiter.
Zu diesem Zeitpunkt wurde auch begonnen, die Höhle systematisch zu vermessen. Im sechs Grad kalten Wasser und mit dicken Handschuhen kein einfaches Unterfangen. Zudem zeigte sich, dass die vielen Pressluftstahlflaschen die Magnetnadel des Kompasses erheblich beeinflussten. Daneben galt es das Problem der Beleuchtung zu lösen. Die kleinen, hellen LED-Lämpchen mit niedrigem Energiebedarf waren noch nicht erfunden. Stattdessen versuchten die Taucher, mindestens die ersten 200 Tauchmeter stationär auszuleuchten, mit 36-Volt-Unterwasserlampen, die sie mit einem Kabel an einen vor der Höhle installierten Elektrogenerator anschlossen.
Das Wasser
Da man sich nun offensichtlich im Hauptfluss befand, drängten sich neben den abenteuerlichen Aspekten des Unterfangens auch einige ganz praktische Fragen auf. Könnte das Wasser der Höhle für den stark wachsenden Wasserbedarf von Betlis genutzt werden? Mit welchen Mengen Wasser in welcher Qualität und zu welcher Zeit könnte gerechnet werden? Wie hängen andere Quellen und Wasseraustritte in der Umgebung mit der Rinquelle zusammen? Fliesst der eigentliche Abfluss unterirdisch in den Walensee? Könnte man dort gegebenenfalls sogar eintauchen? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, wurden der Rinquelle, zwei bestehenden Quellfassungen in Betlis sowie einem Quellbach östlich der Brücke über den Serenbach Wasserproben entnommen: Bei allen Proben, ausser der der Rinquelle war das Wasser weich und enthielt nur geringe Spuren von Ammonium- und Nitratverbindungen. Im Gegensatz dazu das Wasser der Rinquelle, das den Qualitätsansprüchen von Trinkwasser wegen zu viel Kolibakterien und Enterokokken nicht genügt. Der logische Schluss: Es handelt sich um Oberflächenwasser, das nach kurzem unterirdischem Lauf in Betlis wieder zu Tage tritt. Von wegen gespiesen durch den Rhein, gepresst und gefiltert durch Milliarden von Tonnen Gestein, um nach jahrelanger Reise wieder an der Oberfläche zu erscheinen !
Zwei Wasserfärbungen lieferten ebenfalls eine Überraschung: Zunächst wurde der eigentliche Hauptfluss mit einer fluoreszierenden Lösung geimpft. Die grüne Wolke verschwand und wurde nicht mehr gesehen! Die zweite Färbung betraf den Hochwasserüberlauf, unseren Eintauchstollen. Bereits nach neunzig Minuten kamen die Quellen an der östlichen Wandseite des Seerenbaches in einem unnatürlich kitschigen Grün daher, ähnlich einem mit duftenden Essenzen versetzten Badewasser. Völlig unbeeindruckt zeigten sich dagegen die Quellen auf der westlichen Wandseite. Nichts konnte diese Wässerchen trüben und sie sprudelten weiterhin ihr glasklares frisches Nass. Im Zusammenhang mit einer Karstwasseruntersuchung im Churfisten-/Alviergebiet wurden 1991 weitere Messungen durchgeführt. Dabei entdeckte man östlich der Rombachmündung im Walensee in 21 bis 36 Metern Tiefe Wasseraustrittsstellen des Abflusses. Die Anfangs der 80er-Jahre aufgestellte These, dass das Wasser aus der Region stammt, konnte belegt und weiter konkretisiert werden. Man wusste nun, dass die Rinquelle ein Einzugsgebiet von mindestens fünfzig Quadratkilometer hat. Das bedeutet, dass die gesamte Nordabdachung der Churfirsten hauptsächlich über das Rinquellensystem entwässert wird. Dabei betragen die Distanzen zwischen sechs und dreizehn Kilometer zu den Einspeisstellen, der Köbelishöhle, dem Sibirschacht, dem Rauchloch, dem Seichbergloch sowie der Thurschlucht bei Starkenbach.
Neuland
Einen weiteren Meilenstein setzte Jochen Hasenmayer, der zu dieser Zeit wohl bekannteste Höhlentaucher. Hasenmayer hatte sich durch Extremtauchgänge im Unterwassersystem des Blautopfs in Blaubeuren westlich von Ulm den Ruf eines der besten Höhlentaucher weltweit erlangt. Bei der Rinquelle gelangte er bereits in seinen ersten Versuchen 1973 930 Metern weit in den Berg hinein, wo er nach einer stark verblockten Engstelle ein erstes Mal in einem luftgefüllten Raum auftauchen konnte. Diese Route enthielt jedoch nicht den Hauptfluss, den er, wie er später herausfand, bei 850 Metern verloren hatte. Hasenmayer gab die Mission nicht auf; Ende 1975 wagte er einen neuen Versuch. Begleitet von einem Grossaufmarsch an Helfern und einem Kamerateam des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) fand er in einem über vier Stunden dauernden Solo-Tauchgang die richtige Route und kam nach 890 Metern in einer weiterführenden Passage erneut an die Oberfläche. Der Donnersee war entdeckt. Dahinter ein luftgefüllter Gang, auf dessen Grund ein Wildbach fliesst. 1978 folgte Hasenmayer diesem Gang, dem «Rintobel» und stiess nach 51 Metern auf einen weiter führenden Siphon. Im gleichen Jahr erreichten die beiden Höhlentaucher Magnin und Schneider Punkt 1025. Bei weitern Tauchgängen in den Jahren 1980 und 1981 stiess Hasenmayer bei Punkt 1080 auf einen weiteren luftgefüllten Raum und auf ein stehendes Gewässer! Der Hauptzufluss ist verpasst. Zwei Abzweigungen in der Nähe von Punkt 1025 erweisen sich als zu gefährlich für eine Betauchung. Diese so genannten Hoffnungsgänge zeichnen sich durch Engstellen, starke Strömung oder extreme Trübung durch aufgewirbelte Sedimente aus. Trotz intensiven Bemühungen konnte im Zufluss keine Fortsetzung gefunden werden.
Die Entdeckung von Neuland erhoffte man sich auch beim Abfluss, diesem schwarzen Loch im «Briefkasten» bei Punkt 280. Im Abfluss zu tauchen bedeutet, bei der Rückkehr an die Oberfläche gegen den Strom schwimmen zu müssen. Grosse Gefahr geht dabei von den Engstellen aus, die durch ihre Düsenwirkung das Wasser schneller fliessen lassen. Bemerkt der Höhlentaucher das Auftreten solcher Gefahrenstellen nicht oder zu spät, ist er verloren. Seine verbleibende Lebenserwartung beschränkt sich auf die Anzahl Stunden Atemluft, die sich noch in seinen Pressluftflaschen befinden. Die Möglichkeit, irgendwo in den Walensee hinausgespült zu werden ist der letzte Strohhalm, an dem der Verzweifelte sich noch halten kann.
Als Hasenmeyer 1976 in einem Tauchgang das Abflusssystem erkunden will, erliegt er beinahe diesem Schicksal. Bei Punkt 850, abgelenkt, als er an seinen Instrumenten hantiert, bemerkt er die Gefahr erst, als die Strömungsgeschwindigkeit bedrohlich zunimmt. Nur weil er sich sofort an den Gangwänden festklammert und im anschliessenden Kampf sämtliche Kräfte mobilisiert schafft er es, gegen die Strömung zurück zu tauchen und das Abenteuer zu überleben. Seither hat sich kein Taucher mehr in dieses Gefilde vorgewagt. Der Abfluss als mögliches Forschungsgebiet ist weitgehend abgehakt. Total sind heute 1450 Meter Unterwassergänge erforscht, vermessen und kartografiert.
Gefangen
Mein Schlaf ist unruhig, ich kämpfe gegen einen Traum, um ihn loszuwerden. Ein schwieriges Unterfangen. Unmöglich mich zu orientieren. Ich sehe nichts. Mein wütendes Strampeln hat die Sedimente der mich umgebenden Wände aufgewirbelt und das sonst kristallklare Wasser innert Minuten in eine undurchsichtige braune Brühe verwandelt. Ich habe mich in die Leitleine, die mir eigentlich den Weg zum Ausgang zeigen sollte, verwickelt. Es gelingt mir nicht, mich zu befreien. Je mehr ich strample, ziehe, kämpfe, umso stärker schneidet mir das dünne Nylon in die Hand, ins Bein. Beim Versuch, die Leine zu kappen, ist mir das Messer aus der Hand geglitten. Ich stemme mich gegen die Wand, gehe tief in die Knie und stosse mich mit aller Kraft ab. Ein starkes Ziehen am ganzen Körper, ein dumpfer innerer Schrei. Ich habe mich losgerissen. Doch dem befreienden Gefühl folgt unmittelbar panische Angst. Die Fessel war meine Nabelschnur zur Aussenwelt. Die Versicherung, meinen Rückweg zu finden. Ich habe jedes Raumgefühl verloren. Ich weiss nicht, wo oben und unten, wo vorn und hinten ist. Mein Herz pocht laut. Ich spüre das Blut im Nacken und im Kopf pulsieren. Meine Zähne verbeissen sich im Gummi des Lungenautomats, meine Hände ballen sich zu Fäusten. Instinktiv ziehe ich den Kopf Richtung Schultern. Meine Atemfrequenz hat sich verfünffacht. Wenn ich so weitermache, reicht der einzige gasförmige Punkt weit und breit die Pressluft in meinen Flaschen noch für genau zehn Minuten. Und dann? Zuerst geht das Saugen am Lungenautomaten immer strenger, bis schliesslich nichts mehr kommt. Ich werde versuchen, möglichst schnell in irgendeine Richtung zu schwimmen in der Hoffung auf ein Wunder, dass sich eine Öffnung zu einem luftgefüllten Raum auftut. Das wird nicht geschehen. Dann werde ich versuchen, die Luft anzuhalten. Vielleicht gelingt mir das für eine, für zwei Minuten. Unweigerlich werde ich einen ersten Zug Wasser schlucken. Der wird mir in die Lunge geraten. Ich werde husten. Und dann? Wenn ich nur erwachen könnte, um diesem Alptraum zu entrinnen. Eine starke Strömung hat mich ergriffen. Durch das Loskommen von der Leine bin ich in Bewegung geraten und schiesse förmlich, zusammen mit Tausenden von Litern Wasser, in ein schwarzes Loch in den Berg hinein. Nur der bröckelige Belag, den ich durch mein verzweifeltes Zappeln mit den Flossen von den Wänden schlage, ist noch schneller und schleudert an meinem Kopf vorbei ins Berginnere. Es ist die falsche Richtung. Es ist der Abfluss! Bald wird mich das immer feiner werdende Netz des Labyrinths auffressen, dann teilen und sieben, um mich am Ende aus allen Wasserhähnen der Haushalte in der Umgebung hinausspülen. Ich will raus aber doch nicht über die Badewanne meiner Nachbarn !
Es rüttelt und schüttelt an meinem ganzen Körper. Alles wird ganz eng. Das hat gerade noch gefehlt ein Erdbeben! Nun ist es aus. Im jetzt schon hautengen Gang werden sich die Seitenwände zusammenziehen, die Decke wird auf mich herabstürzen. Erinnerungen kommen hoch, an das letzte Bisschen in der ausgequetschten Tube Senf. Das Rütteln kommt von meiner Frau. Aufgeweckt von meinem unruhigen Schlaf hat sie mich befreit aus diesem Traum.
Vieles hat sich seit der Zeit der Rinquellenpioniere Bruno Klingenfuss, Arthur Kammer, Dodo Keller und weiteren geändert. Ein entscheidender Faktor ist geblieben: die Psyche des Höhlentauchers und der Umgang mit Stress. Stress,
verstanden als Druck von aussen, der innere Anspannung bewirkt und im Kulminationspunkt Panik auslöst.
Eine Reihe von Stressquellen ergeben sind durch den Umstand, Hunderte von Metern von der nächsten Luftquelle entfernt zu tauchen: nur durch künstliche Lichtquellen erzeugte Sicht, die sehr schnell durch aufgewirbelte Sedimente auf 10 cm (!) zurückgehen kann; Zeitdruck durch erhöhten Luftkonsum aufgrund irgendwelcher Probleme; eingeschränkte Bewegungsfreiheit bei Engstellen; Überforderung durch Überlastung mit verschiedenen Aufgaben; Überanstrengung; Selbstüberschätzung;
Gerade auch aus den teilweise sehr einschneidenden Erfahrungen dieser Pioniere ist der Wissenstand beim Höhlentauchen heute wesentlich grösser: Für angehende Höhlentaucher werden Ausbildungslehrgänge angeboten, zu denen Aspiranten nur unter Nachweis entsprechender Ausbildung und Erfahrung in offenen Gewässern zugelassen sind. Die Ausbildung erstreckt sich über mehrere Monate und die Auszubildenden werden immer wieder in Situationen gebracht, ihre Kompetenz in der Bewältigung von Stresssituationen zu erhöhen. Eines der obersten Gebote heisst Redundanz: Sämtliche lebenswichtigen Systeme wie Luft und Licht sind komplett getrennt und in zwei- bis dreifacher Ausführung vorhanden. Getaucht wird grundsätzlich nur an einem bereits verlegten oder mitzuführenden Leitseil, so dass auch bei komplettem Ausfall der Sicht der Weg Richtung Ausgang ertastet werden kann. Spätester Umkehrpunkt auf jedem Höhlentauchgang ist strikte, wenn ein Drittel der Luftreserven verbraucht sind.
Expedition
Die neuen Erkenntnisse und die riesigen Fortschritte in den vergangenen dreissig Jahren in der Materialtechnik haben eine ähnliche Entwicklung wie beim Höhenbergsteigen bewirkt: Kleine, bestausgerüstete Teams versuchen in möglichst kurzer Zeit ihre Ziele zu erreichen.
Wie im oben erwähnten Film des ZDF, der im Museum Amden gezeigt wird, waren damals Heerscharen von Helfern notwendig, um die Expedition von Hasenmayer zu ermöglichen. Ein Notrettungsteam war vor Ort und für Notfälle stand ein Hubschrauber in unmittelbarer Nähe zur Verfügung. Die Ausrüstung von Hasenmayer war mit 159 Kilogramm zweieinhalb Mal so schwer wie er selbst - zu schwer, um alleine und ohne Hilfe den Quelltopf zu erreichen. Sein Tauchanzug glich einem Raumanzug, unter dem weitere sechs bis sieben Schichten warme Kleider getragen werden mussten. Vor der Rückkehr an die Oberfläche mussten die Tauchdaten vom Hilfsteam analysiert und die Anzahl und Aufenthaltszeit der Dekompressionsstopps berechnet werden.
In der Rinquelle tauche ich am liebsten zu zweit, vorzugsweise mit meinem langjährigen Höhlentauchpartner Bruno. Wir haben uns in einem Zeitraum von zehn Jahren die nötige Ausbildung und Erfahrung angeeignet und sämtliche erforderlichen Brevets bestanden. Unsere Ausrüstung transportieren wir in einer mit Raupen versehenen Transportkarre bis kurz unter die Materialseilbahn. Bruno, ausgerüstet mit Klettergeschirr und Gleitrolle, hangelt am Tragseil über die Schlucht, um die Materialseilbahn zu holen (ein Dank an die Erbauer! ).
Zwei Fuhren reichen, um das ganze Material auf die andere Seite zu bringen. Im Eingangsbereich der Höhle bereiten wir unsere Ausrüstung für den Tauchgang vor. Unser Lufttransportsystem besteht aus zwei aluminiumverstärkten Karbonflaschen, die wir am Rücken tragen, ergänzt von zwei zusätzlichen Flaschen gleichen Typs, die seitlich am Körper befestigt werden. Die Zwölf- und Fünfzehnliter-Pressluftflaschen sind auf 400 bar aufgepumpt. Wir steigen in unsere beidseitig mit Titan beschichteten Trockentauchanzüge, darunter tragen wir leichte, speziell wärmende Unterzieher aus Kunststofffasern, die zusammen mit vom Körper erwärmten Luft eine konstante angenehme Wärme garantieren. Als Lichtquelle verwenden wir drei unabhängig voneinander arbeitende Halogenglühlampensysteme, betrieben von Hochleistungsakkutanks. Licht für mehrere Stunden. Unser Ziel ist es, im Zufluss so weit wie möglich an die erste Auftauchstelle von Hasenmayer zu gelangen. Gestern haben wir bereits die Strecke bis zum
«Briefkasten» mit neuen Leitseilen fertig ausgerüstet. Wir steigen ruhig ins Wasser und sinken auf den Grund des Quelltopfes ab. Gegenseitig checken wir nochmals sämtliche Systeme auf Vollständigkeit und Funktionstüchtigkeit. Würde etwas fehlen, wir würden den Tauchgang umgehend abbrechen. Am Grund des Quelltopfs befindet sich der zirka zwei auf drei Meter grosse Eingang ins Höhlensystem. Langsam tauche ich weg weg in eine andere Welt. Der Strahl meiner Lampe erleuchtet die ausgewaschenen Wände. Ich komme mir vor wie in tausendundeiner Nacht. Unwahrscheinlich, die Farbenvielfalt des Gesteins: Die verschiedenen Grün-, Blau-, Grau-, Rot- und Gelbtöne schaffen eine alles andere als triste Atmosphäre. Im Ohr habe ich das ganze Orchester des Berges. Einmal der tiefe Bass eines fernen Abflusses, dann wieder die hellen Töne einer kleinen Quelle, die offenbar ganz in meiner Nähe zum Hauptgang stösst. Mir ist schön warm und ich schwebe im wassergefüllten Gang ganz ruhig dahin. Ähnlich wie beim Fliegen kann ich mich mühelos in allen drei Dimensionen frei bewegen. Ist es die Erinnerung an die eigene Geburt, die mich in diesem Kanal voll eigentlicher Dunkelheit und Enge mitten in Mutter Erde so ruhig werden lässt?
Die Gangformationen wechseln. Manchmal elliptisch, manchmal flach und breit. Vor mir habe ich das Leitseil im Blick, aus dem Augenwinkel nehme ich Brunos Lampe wahr, die mich von hinten anleuchtet. Hätte er ein Problem, ich konnte es sofort erkennen. Das Unternehmen gestaltet sich unspektakulär und ohne Zwischenfälle. Nach dem «Briefkasten» tauchen wir durch den Zufluss auf -23 Meter ab. Die Gänge im Hauptfluss sind grösser und ausgewaschener. Zusätzlich verlege ich eine Leitleine. Bruno befestigt sie so, dass sie immer gut erreichbar bleibt. Nach 800 Metern haben wir das erste Drittel unserer Luft beinahe aufgebraucht. Ein Blick auf den Tauchcomputer informiert uns, dass wir in drei Metern Tiefe einen Dekompressionsstopp einlegen müssen, wenn wir jetzt aufsteigen wollten. Also keine Chance, den hinteren luftgefüllten Raum zu erreichen. Wir beschliessen die Rückreise anzutreten. Wir kommen wieder. Das nächste Mal mit grösseren Luftreserven.
Ist es ein Ego-Trip? Eine Reise zur Selbstfindung? Kompensation zur sicheren, durchorganisierten Welt «draussen»?
Ein grosser Teil ist erforscht und enthüllt, der Rest bleibt unentdeckt und damit Spekulation.
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